Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk
Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk

Horst-Jürgen Gerigk

Dostojewskij und Deutschland

Swetlana Geier zu Ehren

 

Festvortrag anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg an Swetlana Geier am Dienstag, dem 10. Juli 2007, im Großen Saal des Hauses „Zur Lieben Hand“. Grußwort: Prof. Dr. Wolfgang Jäger, Rektor der Albert-Ludwigs Universität Freiburg; Laudatio: Prof. Dr. Elisabeth Cheauré, Dekanin der Philologischen Fakultät; Verleihung der Ehrendoktorwürde: Prof. Dr. Hans-Joachim Gehrke, Dekan der Philosophischen Fakultät und Vorsitzender der Gemeinsamen Kommission. Musikalische Umrahmung: Russischer Chor der Universität Freiburg.

 

Magnifizenz, Spektabiles,
Liebe Frau Doktor Geier, Meine Damen und Herren,

Dostojewskij und Deutschland --- das ist ein großes Thema. Und dieses Thema hat, wie wir soeben gehört haben, in unserem 21. Jahrhundert einen ganz besonderen Akzent erhalten: mit dem Abschluß der neuen deutschen Übersetzung der fünf großen Romane Dostojewskijs durch Swetlana Geier. Ein neuer Ansporn, Dostojewskij zu lesen: Verbrechen und Strafe, Der Idiot, Böse Geister, Ein grüner Junge, Die Brüder Karamasow.

 

René Wellek, der Begründer der Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Yale University, konnte 1962 feststellen: in keinem Land, von Russland selbst einmal abgesehen, sei Dostojewskij so intensiv interpretiert und erforscht worden wie in Deutschland. [1] Eine solche Feststellung setzt allerdings die europäisch-amerikanische Kulturlandschaft als den uns geläufigen Horizont voraus. Wie wir aber inzwischen wissen, gibt es in Japan so viele verschiedene Dostojewskij-Übersetzungen wie in keinem anderen Land der Welt. Das ist ein bedenkenswertes Faktum, denn die Japaner sind ja keine Christen, und Dostojewskij gilt doch bei uns als christlicher Schriftsteller. [2]

 

Offensichtlich spielt die Ideologie seiner Dichtung keine entscheidende Rolle für seine tatsächliche Wirkung auf den Leser. Dies ist auch für Dostojewskijs Wirkung im deutschen Sprachraum zu bedenken. Es fragt sich, wie christlich Dostojewskij denn überhaupt ist. Schließlich hat ihn Friedrich Nietzsche geschätzt und uns das Stichwort geliefert mit dem Vermerk: Dostojewskij — der „einzige Psychologe, von dem ich etwas zu lernen hatte.“ Dostojewskij, so Nietzsche, gehöre zu den „schönsten Glücksfällen“ seines Lebens. Das steht 1888 in der Götzen-Dämmerung. [3]

 

Nietzsche freut sich. Das ist sehr verdächtig. Dostojewskij --- ein Psychologe? Wo doch Dostojewskij selber gesagt hat:

 

„Man nennt mich einen Psychologen: stimmt nicht. Ich bin nur ein Realist im höheren Sinne, das heißt, ich schildere alle Tiefen der menschlichen Seele.“ [4]

 

Damit hat Dostojewskij allerdings nicht den Realisten vom Psychologen getrennt, sondern: den Psychologen realistisch und den Realisten psychologisch definiert. Denn: Thema der fünf großen Romane Dostojewskijs ist der „intelligible“ Mensch im Sinne von Kant und Schiller: der Mensch in seiner Freiheit, der sich nicht durch Erbanlagen und Milieu determinieren lässt. Also nicht der Mensch des Naturalismus, etwa eines Emile Zola.

 

Es ist die große Leistung Dostojewskijs, des Dichters, diesen intelligiblen Menschen, der per definitionem nur dem geistigen Auge sichtbar ist, so veranschaulicht zu haben, als sei er empirisch gegeben. Und darin ist er „Realist im höheren Sinne“: als Psychologe der moralischen Person, für deren Taten es keine mildernden Umstände gibt.

 

Nur eine Generation später wird Anton Tschechow nur noch den „empirischen“ Menschen gestalten. Schuld und schlechtes Gewissen haben ihre Erzählwürdigkeit verloren. Überall herrscht die Alttäglichkeit. [5] Dostojewskijs Welt hingegen kennt keine Alltäglichkeit. Hierzu sogleich ein besonderes Wort.

 

Zunächst die Details über Dostojewskij in Deutschland. Beginnen wir ganz konkret mit seinen Aufenthalten auf deutschem Boden, die von Geldmangel, Epilepsie und Spielsucht gekennzeichnet sind. 1862 unternimmt Dostojewskij, einundvierzig Jahre alt, seine erste Auslandsreise.

 

Berlin, Dresden, Wiesbaden, Frankfurt, Heidelberg, Baden-Baden, Köln, Mainz – danach in die Schweiz und nach Italien. Und dazwischen ein Abstecher: Paris, London und wieder zurück nach Paris.

 

Dostojewskij wird jedoch im Westen nicht heimisch. Sein Verhältnis zum zeitgenössischen Deutschland bleibt von Ressentiment geprägt. Auch seine weiteren Aufenthalte auf deutschem Boden ändern daran nichts.

 

Man denke nur an Dostojewskijs Auslassungen über die deutsche Wesensart in seinem Roman Der Spieler von 1866, der als einziger Deutschland zum zentralen Schauplatz hat:

 

„Der Baron war dürr, hochgewachsen. Das Gesicht, ganz wie bei Deutschen üblich, schief und von tausend kleinen Falten durchzogen; mit Brille; an die fünfundvierzig Jahre alt. Seine Beine beginnen fast direkt an der Brust; ein Zeichen von Rasse. Stolz wie ein Pfau. Ein wenig ungelenk. Im Gesichtsausdruck etwas von einem Hammel, was ganz auf seine Weise den Ausdruck von Nachdenklichkeit ersetzt.“ (Kap. 6) [6]

 

So sieht für Dostojewskij ein Deutscher aus. Von 1869 bis 1871 lebt er meist in Dresden, kurz mal in Bad Homburg und Wiesbaden. Schließlich, von 1874 bis 1879, viermal Kuraufenthalt in Bad Ems, wo er Teile seiner beiden letzten Romane schreibt. [7]

 

Und hier in Bad Ems wurde denn auch 1971 die Internationale Dostojewskij-Gesellschaft ins Leben gerufen, die ich damals, als junger Privatdozent, mitbegründet habe. Für sowjetische Literaturwissenschaftler war es 1971 unmöglich, an der Gründung teilzunehmen, und noch dazu in Westdeutschland, denn Dostojewskij war ja nicht nur ein erklärter Gegner des Kommunismus, sondern auch des Sozialismus und musste deshalb der sowjetischen Terrorherrschaft ein Dorn im Auge sein.

 

Doch ich will mich nicht ablenken lassen. Dostojewskij in Deutschland: Meine Auflistung sollte deutlich machen, dass sich Dostojewskij in keinem Land, außer in Rußland, so oft und kontinuierlich aufgehalten hat wie in Deutschland. Heimisch wurde er hier jedoch nie. Ganz im Gegensatz zu seinem verhaßten Rivalen Iwan Turgenjew, der 1869 der deutschen Ausgabe seines Romans Väter und Söhne ein deutsch geschriebenes Vorwort voranstellte, worin es heißt:

 

„Ich verdanke zu viel Deutschland, um es nicht als mein zweites Vaterland zu lieben und zu verehren.“ [8]

 

Dostojewskij hätte niemals so etwas von sich gesagt. Und doch ist damit sein Verhältnis zu Deutschland nicht wirklich gekennzeichnet. Denn: Dostojewskij in Deutschland — das ist die eine Sache. Aber: Deutschland in Dostojewskij — das ist eine ganz andere Sache. Kurzum: Als Schriftsteller hat er sich geradezu enthusiastisch an Schiller und E. T. A. Hoffmann orientiert. Von Schiller übernimmt er die anthropologische Prämisse, von E. T. A. Hoffmann speziell das Doppelgänger-Motiv. In Dostojewskijs fünf großen Romanen sitzt die Ich-Spaltung im Subjekt. Die Gefährdung der Person durch eine „fremde“ Identität, die Okkupationsabsichten hat, das ist Dostojewskijs Dauerthema. Raskolnikow ist dieser Sachverhalt sogar in seinen Namen eingeschrieben. Russisch raskol heißt „Spaltung“. Dostojewskijs früher Roman Der Doppelgänger macht noch von der romantischen Vorstellung der „wirklichen Selbstbegegnung“ Gebrauch. Goljadkin begegnet leibhaftig sich selbst, erblickt in seinem Spiegelbild den erfolgreichen Feind.

 

Was beide, Schiller und Hoffmann, in ihrer tiefen und dauernden Einwirkung auf Dostojewskij zusammenführt, ist die Auffassung, dass das wahrhaft Exemplarische für das Wesen des Menschen nicht im Normalen und Vorbildlichen zu suchen ist, sondern im Ausgefallenen, im Zerrbild, kurzum: in der Abnormität. [9] Bei Schiller ist das Paradigma des Menschen der Verbrecher, bei Hoffmann der Wahnsinnige:

 

„In der ganzen Geschichte der Menschheit ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen. Bei jedem großen Verbrechen war eine verhältnismäßig große Kraft in Bewegung.“ [10]

 

So beginnt Schillers Erzählung vom Verbrecher aus verlorener Ehre und bündelt damit provozierend Erkenntnis und Interesse.

 

Bei E. T. A. Hoffmann lesen wir in den Serapions-Brüdern (Cyprian sagt es):

 

„dass einiger Wahnsinn, einige Narrheit so tief in der menschlichen Natur bedingt ist, dass man diese gar nicht besser erkennen kann als durch sorgfältiges Studium der Wahnsinnigen und Narren.“ [11]

 

Eine recht hintersinnige Auffassung der „menschlichen Natur“. Auch hier ist, wie bei Schiller, die Abweisung der Philisters leitend. Man darf nicht vergessen, dass Dostojewskij schon in jungen Jahren Schillers Räuber, zusammen mit seinem Bruder Michail, ins Russische übersetzt hat.

 

In Dostojewskijs populärstem Roman überhaupt, Verbrechen und Strafe, sind Raskolnikows Fieberzustände vor seiner kriminellen Untat sowie sein körperlicher Zusammenbruch mit mehrtägigen Absenzen nach seiner Untat die perfekte Veranschaulichung dessen, was Schiller in seinem Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (aus dem Jahre 1780) programmatisch feststellt:

 

„Die Schauer, die denjenigen ergreifen, der auf eine lasterhafte Tat ausgeht, oder eben eine ausgeführt hat, sind nichts anders als eben der Horror, der den Febrizitanten schüttelt (...). Die nächtlichen Jaktationen derer, die von Gewissensbissen gequält werden, und die immer von einem febrilischen Aderschlag begleitet sind, sind wahrhaftige Fieber, die der Konsens der Maschine mit der Seele veranlasst“ (§ 15). [12]

 

Besser als Schiller das hier tut, kann man Raskolnikows Seelenqualen nicht auf den Begriff bringen. Raskolnikow ist tatsächlich ein „Febrizitant“. Das Wort sollte man, wie ich meine, durchaus wieder in den Sprachgebrauch einführen.

 

Dostojewskijs obsessives Interesse an der Psychopathologie der Täterpersönlichkeit ist ihm allerdings nicht nur literarisch, durch Schiller und Hoffmann, vermittelt worden, sondern vor allem auch biographisch.

 

Ich erwähnte soeben, dass Dostojewskij erst mit einundvierzig Jahren seine erste Auslandsreise unternahm, nach Westeuropa. Davor aber, mit achtundzwanzig Jahren, hatte er bereits eine ganz andere Auslandsreise unternommen, eine unfreiwillige Reise der speziellen Art: nach Sibirien, ins Zuchthaus in Tobolsk und danach in Omsk, wo er ganze vier Jahre als politischer Sträfling verbrachte. Und das wegen Teilnahme an einem revolutionären Zirkel in Petersburg. In diesem Ausland, das fern von allen bürgerlichen Existenzformen liegt, erlebte er die Hölle. In seinem fiktionalisierten Sträflingsreport Aufzeichnungen aus einem Totenhaus heißt es:

 

„Wir waren unser im Zuchthaus insgesamt so an die zweihundertundfünfzig Mann --- diese Zahl blieb fast immer konstant.“ Und: „Es ist anzunehmen, dass es kein Verbrechen gibt, das hier nicht seinen Vertreter gefunden hätte.“ [13]

 

Aus diesem persönlichen Umgang mit reuelosen Schwerverbrechern zieht sich Dostojewskij einen Probleminfekt zu, den er nicht mehr loswird: Vier seiner fünf großen Romane haben des „Mordes schwere Tat“ zum zentralen Thema. Nur in seinem zweitletzten Roman, der jetzt Ein grüner Junge heißt, kommt der Mord an der weiblichen Hauptgestalt, der sich ankündigt, zufällig nicht zustande. Das heißt: Dostojewskij — das ist der Kriminologe als Dichter.

 

Mit Verbrechen und Strafe ist Dostojewskijs Poetik, das Rezept seiner fünf großen Romane, voll da. Der Titel ist eine umfassende Problemformel. Dostojewskij ist fünfundvierzig Jahre alt. Sieben Wirkungsfaktoren machen von nun an die Verfahrensweise seines poetischen Geistes aus. Es sind dies: Verbrechen, Sexualität, Krankheit, Religion und Politik als die thematischen Regionen. Es handelt sich um eine kalkulierte Mixtur, die bei näherem Hinsehen, vier Fakultäten betrifft: dieJuristische, die Medizinische, die Theologische und die Philosophische. Auf diese vier Fakultäten verteilt sich denn auch die wissenschaftliche Wirkungsgeschichte Dostojewskijs.

 

Es kommen aber noch zwei Wirkungsfaktoren hinzu: Komik und Erzähltechnik. Alle Romane Dostojewskijs weisen auffällige komische Elemente auf. Thomas Mann meinte sogar: „Dennunter anderem war dieser Gekreuzigte ein ganz großer Humorist.“ Die „Lustigkeit des Geistes“ (ein Ausdruck Nietzsches) sei für Dostojewskij kennzeichnend. So Thomas Mann. [14]

 

Und schließlich ist noch als siebenter Wirkungsfaktor Dostojewskijs Erzähltechnik zu erwähnen, die durch und durch maliziös ist, weil dem Leser immer gleichzeitig etwas gezeigt und etwas vorenthalten wird. Der Informationsfluß wird kontrolliert behindert und dabei dramatisiert. Dostojewskij überfällt den Leser mit kommentarlos dargebotenen Ausschnittvergrößerungen, deren Kontext der Leser erschließen muß. Von hier führt eine direkte Linie zu den Filmen von David Lynch — man denke nur an Lost Highway und Mulholland Drive. [15]

 

Diese „machiavellistische Poetik“, wie ich sagen möchte, bestimmt die fünf großen Romane Dostojewskijs, die von 1866 bis 1880 veröffentlicht werden. Es sind dies Verbrechen und Strafe, Der Idiot, Böse Geister, Ein grüner Junge und Die Brüder Karamasow.

 

Ihre Verbreitung in Deutschland erhielt durch die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs im Piper-Verlag ihr maßgebendes Fundament. Diese Ausgabe erschien von 1906 bis 1919 in 22 Bänden im Piper Verlag, München. Übersetzt von E.K, Rahsin, einem Pseudonym für Elisabeth Kaerrick, deren Schwester Lucy mit Arthur Moeller van den Bruck verheiratet war, der die Ausgabe veranstaltete und 1925 Selbstmord beging. Elisabeth Kaerrick, alias E.K. Rahsin, wurde 1886 in Pernau, Estland, geboren, studierte in Dorpat Philosophie und Literaturgeschichte und starb, völlig zurückgezogen, 1966, achtzig Jahre alt, in München. Die Piper-Ausgabe in ihrer Übersetzung legte den Grund für die Dostojewskij-Rezeption im deutschen Sprachraum. Erst nach dem Tod Elisabeth Kaerricks lüftete der Verlag ihr Pseudonym. [16]

 

Hans-Georg Gadamer schreibt in seinen Erinnerungen an das Marburg der zwanziger Jahre:

 

„Die roten Piper-Bände der Dostojewskijschen Romane flammten auf jedem Schreibtisch.“ [17]

 

Wie wir wissen, standen auf Martin Heideggers Schreibtisch in Marburg die Bilder von Dostojewskij und Pascal. Und 1940 zitiert Heidegger in seiner Freiburger Nietzsche-Vorlesung ausführlich aus Dostojewskijs Erläuterungen zu dessen Puschkin-Rede. [18] Ja, Heidegger bekennt 1920 in einem Brief an seine Frau, es sei ihm „eigentlich erst bei Dostojewskij so recht aufgegangen“, daß manche Menschen „lediglich in Beziehungen leben“ — unter Verlust der „Heimat", der „Wiesen“ und „Felder“. [19]

 

Es gab aber auch ablehnende Urteile. Herausragend Sigmund Freud und Sir Galahad. Freud schreibt 1928 in seinem Essay Dostojewskij und die Vatertötung:

 

„Dostojewskij hat es versäumt, ein Lehrer und Befreier der Menschen zu werden, er hat sich zu ihren Kerkermeistern gesellt; die kulturelle Zukunft der Menschen wird ihm wenig zu danken haben.“ [20]

 

Und Bertha Diener-Eckstein, eine streitbare Dame aus Österreich, bescheinigt dem Menschenideal Dostojewskijs schlichtweg Lebensunfahigkeit. 1925 vermerkt sie unter ihrem Pseudonym Sir Galahad:

 

„Alle Nerven überschwemmt vom Gift der Epilepsie, schreibt Dostojewskij, hinschlagend, das Evangelium vom Allmenschen, mit dem Schaum vor seinem Mund auf das Brett vor seinem Hirn.“ [21]

 

Solche Urteile konnten jedoch der fundamentalen Begeisterung für Dostojewskij nichts anhaben. Solche Urteile bleiben Curiosa. [22] Zudem wird der wahre Dostojewskij-Leser kaum etwas lesen, was über Dostojewskij geschrieben wird. Es sei denn eine Biographie. [23] Der anonyme Dostojewskij-Leser aber, der gar nicht darauf kommt, die Eindrücke seiner Lektüre zu fixieren und zu veröffentlichen und vielleicht auch gar niemandem mitteilt, bestenfalls seiner Freundin: er ist die wahre Basis der Verbreitung. Eine ästhetische Erfahrung, die stumm bleiben will. Das aber heißt: Dostojewskij kommt gewiß gut ohne alle Dostojewskij-Forschung aus, nicht aber ohne gute Übersetzungen.

 

Die Dostojewskij-Forschung bildet einen eigenen Denkraum, der mit der Vielzahl der Leser kaum kommuniziert. Nebenbei sei vermerkt, daß innerhalb der letzten zehn Jahre etwas über siebentausend Artikel und Bücher weltweit über Dostojewskij erschienen sind. [24] Eine Arena für „Kenner“, von denen die meisten, wie ich leider sagen muß, gar kein ursprüngliches Verhältnis zu ihren primären Gegenständen, den Romanen Dostojewskijs, haben.

 

Eine deutsche Dostojewskij-Philologie ist erst nach 1945 aufgekommen und hat sich während der letzten fünfzig Jahre in der Slawistik etabliert. [25] Wie bereits erwähnt, sind daneben aber auch Arbeiten von Juristen, Theologen, Philosophen, Medizinern sowie Medizinhistorikern zu verzeichnen. Hervorzuheben bleibt etwa eine grundlegende Arbeit des Epileptologen Dieter Janz mit dem Titel Zum Konflikt von Kreativität und Krankheit: Dostojewskijs Epilepsie. [26]

 

Eine völlig andere Sache ist Dostojewskijs Einfluß auf deutschsprachige Schriftsteller. Hermann Hesse, Stefan Zweig, Thomas Mann verfassen ganze Abhandlungen über ihn. Und Frank Thieß ist es, der als einziger sogar ein ganzes Buch von 339 Seiten über Dostojewskij geschrieben hat, unter dem Leitbegriff „Realismus am Rande der Transzendenz“ (1971). [27] Erzähltechnische Finessen aber diskutiert niemand von ihnen. Schade. Werkstattgeheimnisse taugen offenbar nicht für die Öffentlichkeit. Dafür aber, wohin man blickt, Enthusiasmus. Hugo von Hofmannsthal äußert sich regelrecht hymnisch in einem Vortrag von 1907 über Der Dichter und diese Zeit, einem Vortrag, der den lesenden Menschen verherrlicht:

 

„Für die aber, die jemals hundert Seiten von Dostojewskij gelesen haben oder gelebt die Gestalt der Ottilie in den Wahlverwandtschaften oder gelebt ein Gedicht von Goethe oder ein Gedicht von Stefan George, für die sage ich nichts Befremdliches, wenn ich ihnen von diesem Erlebnis spreche als von dem religiösen Erlebnis, dem einzigen religiösen Erlebnis vielleicht, das ihnen je bewußt geworden ist. Aber dies Erlebnis ist unzerlegbar und unbeschreiblich.“ [28]

 

Lesen als Andacht, Poesie als „Bezauberung“. Und Alfred Döblin vermerkt 1917 in seinem Essay Es ist Zeit!:

 

„Was Tolstoj und Dostojewskij geschrieben und hinterlassen haben, stellt meinem Gefühl nach ganze Klassizitäten anderer Völker in Schatten; an Vehemenz und Tiefe des Gefühls, der seelischen Durchdringung und einfachen Mitteilung, nimmt es, wie ich seit Jahren glaube, kein Deutscher, kein Franzose und Engländer, auch kein Skandinavier des letzten Jahrhunderts mit ihnen auf.“ [29]

 

Auffällig, daß das Kollegen-Lob an keine bestimmte künstlerische Richtung oder politische Couleur gebunden ist. Franz Kafka las seinem Freund Max Brod, wie dieser berichtet, „mit lauter Stimme, außer sich vor Begeisterung“, den Anfang des fünften Kapitels aus Dostojewskijs Jüngling vor: „den paradoxen Plan des Helden, unbedingt reich zu werden.“ [30]

 

Für Ernst Jünger hat Dostojewskijs Art zu erzählen etwas Beängstigendes: es sei so, als ob „man sich bei Nacht in einem fremden Hause“ bewege, ohne zu wissen, „ob man den Rückweg finden“ werde, denn alle Vorgänge, auch die „Bilder von leuchtender Deutlichkeit“, erblicken wir „wie durch einen Spalt“. [31] Diese Zitate mögen genügen, um die Verschiedenheit der Schriftsteller-Persönlichkeiten zu verdeutlichen, die sich über Dostojewskij äußern. Eine ganz andere Frage ist es, den Einfluß Dostojewskijs auf die schriftstellerische Praxis deutschsprachiger Schriftsteller zu belegen. Meist haben wir es nur mit assoziierter Thematik zu tun, nicht mit Poetologie.

 

So hat etwa Hermann Hesse seinen Demian in inspirierender Kenntnis von Dostojewskijs Jüngling geschrieben. Gerhart Hauptmann entwirft seinen Roman Der Narr in Christo Emanuel Quint mit deutlichem Seitenblick auf Dostojewskijs Idiot [32]. Die Dämonen von Heimito von Doderer legen bereits durch ihren Titel den intendierten Vergleich mit dem gleichnamigen Roman Dostojewskijs nahe. Und der Fall Maurizius von Jakob Wassermann läßt mit der Darstellung seines Justizirrtums unweigerlich an die Brüder Karamasow denken.

 

Was sich solcher Anspielungsvielfalt, die natürlich systematisiert werden will, entnehmen läßt, ist das Faktum, daß Dostojewskij schon seit über hundert Jahren zum Bestand unseres kollektiven literarischen Bewußtseins gehört. Das heißt: Die zentralen Situationen in den fünf großen Romanen Dostojewskijs sind zu „Einfluß-Petrefakten“ im Sinne Erwin Koppens geworden. [33] In vielfältiger Vermittlung leben sie als fester Bestand des literarischen Bewußtseins unserer Zeit, sind „da“ - auch für diejenigen, die Dostojewskij nur aus zweiter Hand kennen. So läßt etwa die Einsamkeit eines Mörders nach seiner Tat sofort an Raskolnikow denken.

 

Dostojewskijs Werke leben aber auch auf der Bühne, in Film und Fernsehen und in der Bildenden Kunst weiter - und das nicht nur im deutschen Sprachraum. Wir haben es zweifellos nicht nur mit einem „weiten Feld“ zu tun, sondern mit weitesten Feldern.

 

Damit komme ich zum Schluß. Vergessen wir nicht, daß trotz der inzwischen auch intermedialen Präsenz des Meisters aus Russland die Grundlage seiner Wirkung seine Texte bleiben. Für uns Deutsche die deutschen Übersetzungen! Und wenn ich soeben die erste deutsche Gesamtausgabe im Piper-Verlag zu Anfang des 20. Jahrhunderts herausgestellt habe, so ist heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, was die fünf großen Romane anbelangt, die deutsche Ausgabe im Egon Ammann Verlag an deren Stelle getreten: übersetzt von Swetlana Geier.

 

 

[1] Vgl. René Wellek: Introduction. A Sketch of the Histoiy of Dostoevsky Criticism. In: Dostoevsky. A Collection of Critical Essays. Edited by René Wellek. Englewood Cliffs, N.J.: Prentice-Hall 1962, S. 8.: „The Germans have produced by far the largest body of Dostoevsky interpretations and scholarship outside Russia."

 

 

[2] 2005 erschien auf Russisch Toyofusa Kinoshitas Buch über den Einfluß Dostojewskijs auf die moderne japanische Literatur unter dem Titel: Antropologija i poetika tvorčestva F.M, Dostoevskogo. Sankt-Peterburg: Serebrjanyj vek 2005. Darin: Dostoevskij i japonskaja literatura, S. 133-201.

 

 

[3] Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München, Berlin/New York: dtv- de Gruyter 1980, Bd. 6, S. 147.

 

 

[4] F.M. Dostoevskij; Polnoe sobranie sočinenij. 30 Bde. Leningrad: Nauka 1972-1990, Bd.27, S. 65.

 

 

[5] Zur Abgrenzung der anthropologischen Prämisse Dostojewskijs von der Tschechows vgl. Horst-Jürgen Gerigk: Dostojewskij und Tschechow: Vom intelligiblen zum empirischen Menschen. In: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Herausgegeben von Reto Luzius Fetz, Roland Hagenbüchle, Peter Schulz. 2 Bde. Berlin und New York: de Gruyter 1998 (= European Cultures. Studies in Literature and Arts; Vol. 11.), Bd. 2, S. 965-978.

 

[6] FM. Dostoevskij, op.cit. Bd.5: Igrok, S. 234.

 

[7] Vgl. die Zusammenstellung von Karla Hielscher in ihrer Monographie Dostojewski in Deutschland, Frankfurt am Main und Leipzig: Insel 1999, S. 285 - 286. Zum größeren Zusammenhang vgl. Letopis' žizni i tvorčestva F.M. Dostoevskogo, 1821-1881. 3 Bde, Sankt-Peterburg: Gumanitarnoe agenstvo. „Akademičeskij proekt" 1993-1995.

 

[8] Vgl. Ivan S. Turgenev. Predislovie k nemeckomu perevodu „Otcov i detej". In: Turgenev, Polnoe sobranie sočinenij i pisem. 28 Bde. Sočinenija; 15 Bde., Bd. 15, Moskau-Leningrad: Nauka 1968, S. 101.

 

 

[9] Zu dieser Zusammenführung von Schiller und E.T.A. Hoffmann vgl.Lothar Pikulik: Psychologie und Ästhetik des Mordes bei Schiller, in: Der „Mord". Darstellung und Deutung in den Wissenschaften und Künsten. Herausgegeben von Dietrich von Engelhardt und Manfred Oehmichen. Lübeck: Schmidt-Römhild 2007 ( = Research in Legal Medicine; Vol. 35), S. 111-129. Schiller, so Pikulik, stehe „an der Schwelle einer Epoche", die „ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit gewinnt, indem sie deren Wahrheit nicht im Normalen, sondern in der Abnormität findet." (S. 113) Auf Dostojewskij kommt Pikulik in seinem Zusammenhang nicht zu sprechen. Zu Schillers kriminologischem Interesse vgl. auch den Kommentar des Strafrechtlers Heinz Müller-Dietz zur Erstfassung des Verbrechers aus verlorener Ehre, die 1786 unter dem Titel Verbrecher aus Infamie - eine wahre Geschichte erschienen war. Friedrich Schiller: Verbrecher aus Infamie (1786). Mit Kommentaren vonHeinz Müller-Dietz und Martin Huber. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag 2006 (= Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 6: Recht in der Kunst — Kunst im Recht; Bd. 24).

 

 

[10] Vgl. Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, 5 Bde., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 9. Aufl. 1993, Bd.5, S. 13.

 

 

[11] Vgl. E.T.A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder. München: Winkler 1963, S. 764.

 

 

[12] Vgl. Schiller, Sämtliche Werke, op. cit. Bd. 5, S. 310.

 

 

[13] Vgl. F.M. Dostoevskij, op.cit., Bd. 4: Zapiski iz Mertvogo doma, S. 10.

 

 

[14] Thomas Mann: Dostojewski --- mit Maßen. In. Th. Mann, Essays, Bd. 6. Meine Zeit 1945-1955. Herausgegeben, von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main: S. Fischer 1997, S. 14-32.

 

 

[15] Vgl. Horst-Jürgen Gerigk: Rituale der Seele. Realität als verwirklichte Innerlichkeit in der erzählenden Prosa des 19.Jahrhunderts, mit einem Ausblick auf den Hollywood-Film. In: Subjekt und Metaphysik. Konrad Cramer zu Ehren aus Anlass seines 65. Geburtstags. Herausgegeben von Jürgen Stolzenberg. Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S.99-118.

 

 

[16] Vgl. Christoph Garstka: Arthur Moeller van den Bruck und die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs im Piper-Verlag 1906-1919. Frankfurt am Main: Peter Lang 1998 (= Heidelberger Publikationen zur Slavistik. B. Literaturwissenschaftliche Reihe, Bd. 9).

 

 

[17] Vgl. Gadamer-Lesebuch. ed. Jean Grondin. Tübingen: Mohr/Siebeck 1997 (= UTB; 1972), S. 4.

 

 

[18] Vgl. Martin Heidegger: Nietzsche. Der europäische Nihilismus. In: Heidegger, Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944. Bd.48.Frankfurt am Main: Klostermann 1989, S. 1-2. Zu Heideggers Dostojewskij-Zitat vgl. im Original: F.M. Dostoevskij, op.cit, Bd. 26, S. 129-130.

 

 

[19] Vgl. „Mein liebes Seelchen!" Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915-1970. Herausgegeben und kommentiert von Gertrud Heidegger. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2005, S. 106.

 

 

[20] Vgl. Sigmund Freud: Studienausgabe, ed. Alexander Mitscherlich u.a. 10 Bde. Frankfurt am Main: S. Fischer 2000, Bd. 10, S. 271-272.

 

 

[21] Vgl. Sir Galahad: Idiotenfuhrer durch die russische Literatur. München: Albert Langen 1925, S. 36. „Gewidmet dem Rückgrat der Welt" - das stellt die Autorin als Mahnung ihrem Buch voran, das unverhohlen antirussisch gehalten ist.

 

 

[22] Eine regelrecht charmante Attacke auf Dostojewskij bietet hingegen das Bühnenstück The Idiots Karamazov von Christopher Durang und Albert Inaurato, zwei Amerikanern. Vgl. hierzu Horst-Jürgen Gerigk: Die Brüder Karamasow im Fadenkreuz der Parodie. In: Gerigk, Die Russen in Amerika. Dostojewskij, Tostoj, Turgenjew und Tschechow in ihrer Bedeutung für die Literatur der USA. Hürtgenwald: Guido Pressler 1995, S. 230-239.

 

 

[23] Grundsätzlich ist anzumerken, daß Biographien in einer anderen „Zeitwelt" zentriert sind als die künstlerischen Werke eines Autors. Sein Leben läßt zwar deutlich werden, wie er zu seinen Themen gekommen ist, von der Schaffenspsychologie führt jedoch kein direkter Weg zur Interpretation seiner Werke. Vgl. die Kennzeichnung der verschiedenen „Zeitwelten", Dostojewskij betreffend, in: Horst-Jürgen Gerigk: Das Russland-Bild in den fünf großen Romanen Dostojewskijs. In: Zeitperspektiven. Studien zu Kultur und Gesellschaft, herausgegeben von Uta Gerhardt. Wiesbaden und Stuttgart: Franz Steiner 2003, S. 49-79.

 

 

[24] Vgl. jeweils die "Current Bibliography" in: Dostoevsky Studies. The Journal of the International Dostoevsky Society. New Series, Vols. 2 - 11 (1998-2007), Attempto-Verlag, Dischingerweg 5, D-72070 Tübingen.

 

 

[25] Vgl. Horst-Jürgen Gerigk: Dostojewskij, der „vertrackte Russe". Die Geschichte seiner Wirkung im deutschen Sprachraum vom Fin de siècle bis heute. Tübingen: Attempto Verlag 2000.

 

 

[26] In: Dostoevsky Studies, New Series, 10 (2006), S. 125-140.

 

 

[27] Vgl. Frank Thieß: Dostojewski. Realismus am Rande der Transzendenz, Stuttgart: Seewald 1971.

 

 

[28] Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Ausgewählte Werke in zwei Bänden. Herausgegeben von Rudolf Hirsch. Frankfurt am Main: S. Fischer 1957, Bd. 2, S. 462.

 

 

[29] Vgl. Alfred Döblin: Schriften zur Politik und Gesellschaft. Olten und Freiburg im Breisgau: Walter-Verlag 1972, S. 28.

 

 

[30] Vgl. Max Brod: Über Franz Kafka. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1977, S. 344.

 

 

[31] Vgl. Ernst Jünger: Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung. Figuren und Capriccios. In: Jünger, Werke, 18 Bde., Stuttgart: Klett-Cotta 1978f. Bd. 9, S.241-242.

 

 

[32] Vgl. Horst-Jürgen Gerigk: Gerhart Hauptmanns „Der Narr in Christo Emanuel Quint" und Dostojewskijs „Idiot". Notizen zu einem poetologischen Vergleich. In: New Zealand Slavonic Journal, 37 (2003), S. 23-28.

 

 

[33] Vgl. Erwin Koppen: Hat die Vergleichende Literaturwissenschaft einen eigene Theorie? In: Horst Rüdiger (Hrsg.), Zur Theorie der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Berlin und New York: de Gruyter 1971, S. 53-54.

 

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